Im Wahljahr 2019 widmete sich die gewerbliche Winterkonferenz der Frage, was die Politik für die Gewerbler tun kann und wo der grösste Handlungsbedarf ist. Dazu diskutierten u.a Nationalrätin und FDP-Präsidentin Petra Gössi sowie Nationalrat und SVP-Präsident Albert Rösti. Zudem wurde am Donnerstag exklusiv das KMU-Ranking der Bundesparlamentarierinnen und Bundesparlamentarier vorgestellt.
Zum Auftakt des Wahljahrs 2019 hat im tief verschneiten Klosters die 70. Gewerbliche Winterkonferenz begonnen. Bis Freitag, 18. Januar treffen sich Vertreter der Politik und der KMU-Wirtschaft im Prättigau zum politischen Austausch ebenso wie zum Knüpfen auf Auffrischen von persönlichen Beziehungen. Das Tagungsthema des vom Schweizerischen Gewerbeverband sgv organisierten, dreitägigen «WEF des Gewerbes» lautet: «Politik für KMU».
«Was ist KMU-Politik überhaupt?», fragte sgv-Präsident und Nationalrat Jean-François Rime in seiner Eröffnungsrede. In einem eidgenössischen Wahljahr sei es umso wichtiger, den oft bemühten Begriff mit Inhalt zu füllen. «Einige von uns wollen wiedergewählt werden. Andere wollen neu gewählt werden. Und alle positionieren sich als KMU-Politikerinnen und Politiker.»
Jean-François Rime, Präsident des sgv und Nationalrat SVP/FR, eröffnete die 70. Gewerbliche WinterkonferenzRime erinnerte an die im Mai 2018 vom Schweizerischen Gewerbekongress verabschiedeten strategischen Zielsetzungen des sgv. «Es ist wichtig, dass wir diese Strategieziele als Kompass immer vor Augen halten.»
Unter «KMU-Politik» lauten die Ziele des sgv für die Zeit bis 2022:
Der sgv sei von seiner ordnungspolitischen Linie überzeugt. «Wenn man den Unternehmen und dem Markt Freiraum gibt», so Rime, «entstehen Wohlstand und Lebensqualität. Der Abbau von Regulierungskosten schafft diesen Freiraum.» Und damit sei der Abbau von Regulierungskosten nichts weniger als ein Wachstumsprogramm aus eigener Kraft. «Freiheit für Unternehmen und Markt bedeutet Lebensqualität für die Gesellschaft.»
Weiter rief der Freiburger SVP-Nationalrat dazu auf, am 10. Februar der «überflüssigen, unnützen und schädlichen Zersiedelungsinitiative» eine klare Abfuhr zu erteilen. Der sgv habe den Lead in der Gegenkampagne inne, und der Abstimmungskampf habe im Januar Fahrt aufgenommen. Alle Kampagnenmassnahmen wie Plakate, Inserate, Publireportagen oder social-media Kampagne würden nun umgesetzt, Flyer verteilt, und eine vom sgv-Team produzierte Abstimmungszeitung sei in dieser Woche in 2,1 Millionen Haushalte verteilt worden.
«Der Kampf ist aber noch nicht gewonnen», mahnte Rime und erinnerte an die Zweitwohnungsinitiative. Sie wurde lange als chancenlos betrachtet und am Ende trotzdem angenommen. «Das darf nicht noch einmal passieren!», forderte Rime und bat die Vertreter der Branchenverbände und der kantonalen Gewerbeverbände um engagierte Unterstützung. Die Zersiedelungs-Initiative würde zu Stillstand und einem Entwicklungsstopp führen, greife in den Föderalismus ein und sei «radikal und brandgefährlich».
Und schliesslich nahm Rime Stellung zur Steuervorlage 17 oder STAF, dem Nachfolgeprojekt der gescheiterten Unternehmenssteuer URSIII. STAF sei «ein hart errungener Kompromiss, der die Unternehmensbesteuerung mit der AHV Finanzierung koppelt». Die STAF ermögliche die als notwendig erachtete Anpassung an die internationalen Normen. Die Volksabstimmung findet die am 19. Mai 2019 statt; sgv-Vorstand und Gewerbekammer werden am 30. Januar über die Vorlage diskutieren und die Parole fassen.
Nach Rime war die Reihe am Bündner CVP-Regierungsrat Marcus Caduff, bevor der Deutsche Prof. Dr. Hans-Werner Sinn den Eröffnungsreigen abschloss. «Sinn ist nicht nur als Forscher hochgeschätzt, er ist auch in der Politik relevant», sagte Rime. Er habe den Mut, «auch unbequeme Dinge so auszudrücken, dass sie verstanden werden».
Sinn, einer der bekanntesten – wenn nicht der bekannteste – Ökonom Deutschlands ist emeritierter Präsident am ifo Institut und Professor an der Ludwig-Maximilians-Universität München. In den letzten Jahren beschäftigte er sich vor allem mit der Eurokrise, Italien, der Europäischen Zentralbank, grüner Energie, der Demographie, der Migration, und dem Thema Brexit.
Prof. Dr. Hans-Werner Sinn, einer der bekanntesten Ökonomen Deutschlands, schloss mit seiner Analyse zur Entwicklung der EU den Eröffnungsreigen der 70. Gewerblichen Winterkonferenz 2019 ab.Am Abend nach Theresa Mays historischer Niederlage mit dem Brexit-Deal erwartete Sinn viel eher eine Verlängerung der Austrittsfrist Grossbritanniens aus der EU, allenfalls gar einen Rückzug des britischen Austrittsantrags oder zumindest eine zweite Abstimmung in der zweitgrössten Volkswirtschaft der Europäischen Union als einen «harten Brexit».
Ein effektiver Austritt der Briten aus der EU würde das Machtgefüge in der EU nach Ansicht Sinns stark verändern, und zwar zuungunsten des Nordens, der seine Sperrminorität verlieren würde. «Mehr Staatsgläubigkeit und Protektionismus» wären die Folgen, wenn Europa seinen «liberalen Schutzschirm Grossbritannien» verlöre, so Sinn. «Deutschland wird zu den Verlierern gehören – und dadurch indirekt auch die Schweiz.»
Vor dem Hintergrund der «bloss mit sehr viel Geld übertünchten Krise des EU-Südens erwartet Sinn, dass ein erneutes Aufflammen der Eurokrise aus Italien befeuert werden wird – und dass die wahrscheinlichste «Lösung» der Krise in einer Transferunion gesucht werden wird, in der Kredite ganz offiziell zu Geschenken umdeklariert werden. Sinn erntete für seine Ausführungen langanhaltenden Applaus. «Klosters 2019» ist lanciert.
Das von der Gemeinde Klosters-Serneus gesponserte Apero bot den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der 70. Gewerblichen Winterkonferenz des Schweizerischen Gewerbeverbandes sgv Gelegenheit, neue Kontakte zu knüpfen und bestehende Bindungen zu vertiefen.
Die FDP im Nationalrat, die SVP im Ständerat an der Spitze: Das KMU-Rating des Schweizerischen Gewerbeverbands sgv wurde an der 70. Gewerblichen Winterkonferenz in Klosters von Polittools-Autor Daniel Schwarz der Öffentlichkeit vorgestellt. «Dass sgv-Direktor und FDP-Nationalrat Hans-Ulrich Bigler im Nationalrat im ersten Rang der KMU-freundlichen Politiker aufgeführt wird, ist einzig seinem Abstimmungsverhalten geschuldet», stellte Schwarz gleich zu Beginn klar. Auf Basis der vom sgv erstellten Sessionsbilanzen zwischen den Wintersessionen 2015 und 2018 seien im Nationalrat 262, im Ständerat 60 KMU-relevante Geschäfte unter die Lupe genommen und gewichtet worden.
Zur Interpretation der Ergebnisse wies Rating-Autor Schwarz darauf hin, dass nicht bloss die Platzierung der Ratsmitglieder, sondern vor allem auch der absolute Rating-Wert beachtet werden müsse. «Ein Rating-Wert zwischen 45 und 50 bedeutet, dass jemand sich in zwei von drei Abstimmungen in Übereinstimmung mit den Positionen des sgv befindet.» Anders gesagt: Auch die im Rating weiter hinten positionierten Mitteparteien BDP und CVP hätten «nicht massiv schlechter» abgeschnitten als die führenden FDP und SVP, die ihrerseits «sehr nahe beieinander» lägen.
Der Solothurner SP-Nationalrat Philipp Hadorn – der Gewerkschafter mit Platz 162 von 200 im Rating war eingeladen worden, um «die andere Meinung» zu vertreten – stimmte auf das von SRF-Moderator Reto Lipp moderierte grosse Podium ein. Daran nahmen teil: FDP-Präsidentin Petra Gössi (Rating: Platz 7), SVP-Präsident Albert Rösti (38), CVP-Nationalrat Martin Candinas (128), glp-Präsident Jürg Grossen (123) und BDP-Vizepräsident Lorenz Hess (114).
«Die 50. Legislatur ist eine verlorene Legislatur»: Mit dieser These lancierte Lipp die Diskussion und fragte, weshalb die vergangenen drei Jahre aus Sicht der KMU dennoch als erfolgreich gelten würden. Gössi und Rösti wehrten sich gegen Lipps Behauptung. So sei etwa die Verhinderung eines Ausbaus der AHV aus gewerblicher Sicht sehr wohl ein Erfolg gewesen, sagte Gössi. Rösti wertete den Verzicht auf eine Verteuerung der Treibstoffe als «gut für die KMU» und stellte klar: «Keine Lösung ist stets besser als eine schlechte.»
Candinas wertete die Energiestrategie «zumindest für einen Teil der KMU» als Erfolg, während Grossen beklagte, in der laufenden «Null-Legislatur» würden die Chancen der Digitalisierung nicht ausreichend oder gar nicht genutzt.
Hess und Candias waren sich einig, dass überbordende Regulierungen zwar schädlich, Verordnungen, Rundschreiben und Weisungen aber oft viel gefährlicher als Gesetze seien, weil sich hier die Verwaltung oft unkontrolliert austobe. Grossen warb für Anreizsysteme und Lenkungsabgaben statt Regulierungen und Verbote, Gössi plädierte für eine ausserhalb der Verwaltung zu schaffende Instanz zur Abschätzung von Folgen der Regulierung – was Grossen klar ablehnte –, Hess warb für die BDP-Idee einer staatlichen KMU-Strategie und Rösti wurde konkret: «Kommen Anliegen wie die Konzernverantwortungsinitiative durch, so werden solch unsinnige Regulierungen früher oder später auch auf KMU durchschlagen.»
Uneinigkeit herrschte auch beim Thema Mehrwertsteuer-Einheitssatz. Laut Gössi würden mit der alten FDP-Forderung Kosten von 1,7 Milliarden Franken eingespart. Candinas verteidigte die Sondersätze im Tourismus, während Rösti den Einheitssatz als Steuererhöhung für einzelne Branchen betrachtet.
Vom neuen Wirtschaftsminister Guy Parmelin (SVP) erwartet Parteikollege Rösti, dass sich dieser für Freihandelsabkommen – auch mit der USA – einsetzt. Gössi stellte klar, dass im Freihandel nicht immer auf die Bauern Rücksicht genommen werden könne, und Grossen – auch für ihn ist Freihandel zentral – will, «dass endlich die staatsnahen Unternehmen in die Schranken gewiesen werden.»
Das Rahmenprogramm der 70. gewerblichen Winterkonferenz des sgv liess nicht zu Wünschen übrig. Bei strahlendem Winterwetter stand ein Ausflug zum Kesslerhof auf dem Programm. Hier wurden die Teilnehmenden mit köstlichen Bündnerspezialitäten verwöhnt. Thomi Kessler führt den Hof mit seiner Familie. Seit 16 Jahren ist er unternehmerisch tätig und verarbeitet Milch und Fleisch in der hofeigenen Käserei und Metzgerei weiter. «Wir müssen immer innovativ bleiben, um wettbewerbsfähig bleiben zu können. Dies ist für uns täglich eine Herausforderung», so Kessler.
Der Nachmittag des zweiten Tages der gewerblichen Winterkonferenz stand unter dem Thema «Weichenstellung für den Standort Schweiz». Serge Gaillard, Direktor der Eidgenössischen Finanzverwaltung, machte eine finanzpolitische Einordnung und sprach über die Steuervorlage 17 sowie die AHV-Zusatzfinanzierung. Er startete sein Referat mit der Frage, wieso die Finanzlage in der Schweiz so gut sei. Die Schweiz halte konsequent die Schuldenbremse ein, deshalb seien die Abschlüsse immer besser als im Budget vorgesehen. «Wenige Länder sind finanzpolitisch so gut aufgestellt wie die Schweiz», stellte Gaillard fest. Dies sei darauf zurückzuführen, dass die Schweiz die europäische Schuldenkrise relativ schadlos überstanden habe und in den letzten zehn Jahren auf ein kontinuierliches Wirtschaftswachstum von 1,5 Prozent zurückgreifen konnte.
Die Schuldenbremse, an die sich alle ausnahmslos halten würden, die Rückstellung von je einer Milliarde Franken in den letzten drei Jahren für den Nationalstrassenfonds, die Steuerreform sowie die AHV seien weitere Gründe für die regelmässigen Überschüsse bei den Bundesfinanzen. Gaillard gab allerdings zu bedenken, dass trotz der guten Ausgangslage die Finanzlage des Bundes in den nächsten Jahrzehnten eng werde. Dies habe mit dem demographischen Anstieg der Rentnerinnen und Rentner bzw. den erhöhten AHV-Ausgaben und den jährlich um vier Prozent steigenden Gesundheitskosten zu tun. «Dennoch kann es uns gelingen, den Bundeshaushalt mit Hilfe der Schuldenbremse trotz hohen Sozialausgaben in der Balance zu halten», ist Gaillard zuversichtlich.
Der Direktor der eidgenössischen Finanzverwaltung erklärte die anstehende Steuerreform und AHV-Finanzierung (STAF), worüber die Schweiz am 19. Mai 2019 abstimmen muss. Es gibt die ordentlich besteuerten Unternehmen - meistens KMU - und die internationalen Unternehmen, die privilegiert besteuert werden. Auf Druck des Auslandes müssen diese international nicht mehr akzeptierten Steuerregime nun abgeschafft werden - eine Knacknuss für die Schweiz: «Dies bringt die Kantone Genf, Waadt, Freiburg, Schaffhausen, Zug und Basel-Stadt in arge Schwierigkeiten, beherbergen sie doch zahlreiche Statusgesellschaften», so Gaillard und ergänzte: «Sie müssen handeln, bevor die internationale Firmen abwandern und Arbeitsplätze verloren gehen.»
Die neue Steuerreform, die mit der AHV-Finanzierung gekoppelt ist, sieht nun vor, dass der Bund den besagten Kantonen eine Milliarde Franken zuschiesst, damit sie sich auf die neue Situation einstellen können. Gleichzeitig soll die AHV mit 2,4 Milliarden Franken beglückt werden. «Diese Zusatzfinanzierung verschafft der AHV eine Verschnaufpause, bis die dringend notwendige Reform in Angriff genommen werden kann», sagte Gaillard.
Würden die Pläne der Kantone realisiert, so gäbe es in der Schweiz vier Steuerregionen, prognostiziert Gaillard: «Die Innerschweiz mit einem Steuersatz von 12 bis 13 Prozent für Unternehmen, die Westschweiz mit einem deutlich geringeren Steuersatz von 13 bis 14 Prozent (ausgenommen der Kanton Wallis), die Kantone Zürich und Aargau mit 18 bis 19 Prozent sowie der Rest der Schweiz mit 16 Prozent. «Somit wären KMU weniger steuerlich belastet, während Statusgesellschaften künftig mehr Steuern zahlen werden», fasste Gaillard zusammen.
Im anschliessenden Podium unter der Leitung von Claudia Blumer (Tagesanzeiger) wurde die Steuerpolitik ausgiebig diskutiert. Nationalrat Bruno Walliser (SVP/ZH) sowie Nationalrätin Diana Gutjahr (SVP/TG) lehnen die Vorlage ab. «Die Verknüpfung der Steuerreform mit der AHV-Finanzierung passt nicht. Zudem bin ich überzeugt, dass die Vorlage im Kanton Zürich keine Chance hat und dann die KMU bluten müssen», so Walliser. Und Gutjahr doppelte nach: «Auch ich kann der Verknüpfung in der Vorlage nicht zu stimmen, denn zuerst muss man die AHV-Problematik klären.» Man brauche für die AHV jetzt eine Lösung, auch im Namen der jungen Generation, die auch nochmal etwas von der AHV abkriegen wolle.
Nationalrätin Ida Glanzmann (CVP/LU) unterstützt die Vorlage und gab zu bedenken, dass der Bundesrat ursprünglich gerne die Familienzulagen mit der Steuerreform verknüpfen wollte. «Das hätte die KMU hart getroffen. Ich bin enttäuscht, dass linke Kreise rund um die SP den jetzigen Kompromiss nicht akzeptieren können.» Nationalrat Matthias Jauslin (FDP/AG) beisst mit der Vorlage in den sauren Apfel – zugunsten des Gewerbes. «Es ist wichtig, dass die Statusgesellschaften nicht abwandern und hier in der Schweiz bleiben. Denn gerade die KMU sind von ihnen mit Folgegeschäften indirekt abhängig.» Auch Nationalrat Rocco Cattaneo (FDP/TI) sprach sich für die Vorlage aus. «Wir müssen für die Statusgesellschaften dringend eine Lösung finden, es hängen viele Arbeitsplätze daran.»
Der Schweizer Arbeitsmarkt und das institutionelle Rahmenabkommen (InstA) mit der EU waren am Freitag Thema der 70. Gewerblichen Winterkonferenz in Klosters. sgv-Ressortleiter Dieter Kläy unterstrich die Wichtigkeit, die der Schweizerische Gewerbeverband sgv einem flexiblen Arbeitsmarkt als Teil des wirtschaftlichen Erfolgs der Schweiz beimisst.
Er sprach sich gegen zusätzliche Regulierungen des Arbeitsmarkts, insbesondere auch gegen einen Ausbau der flankierenden Massnahmen (FlaM) aus und forderte, dass das aus den 1960er Jahren stammende Arbeitsgesetz den heutigen Gegebenheiten angepasst werden müsse. «Nicht mehr, sondern anders, flexibler arbeiten ist die Devise.» Der sgv stelle das Ziel des heutigen Lohnschutzes nicht infrage; Verhandlungen rund um das InstA dürften aber nicht in einer Beschränkung des flexiblen Abeitsmarkts enden.
«Zweck der Europapolitik des Bundesrats ist die Sicherung des Zugangs zum EU-Binnenmarkt», schickte Staatssekretär Roberto Balzaretti seinen Überlegungen zum InstA voraus. Rund eine Milliarde Franken pro Tag betrage der Warentausch zwischen der Schweiz und der EU – Dienstleistungen eingerechnet gar fast zwei Milliarden. Deshalb gelte für die Schweiz in allen Verhandlungen: «So viel Schweiz wie möglich, so viel EU wie nötig.»
Für die EU sei die Homogenisierung der Rechtslage ebenso sakrosankt wie die Neutralität für die Schweiz. «Wo immer Recht entschieden wird, muss die Schweiz mitsprechen können», sagte der Schweizer Chef-Unterhändler. Drei Ziele seien in den Verhandlungen mit der EU nicht erreicht worden: Die Ausklammerung der FlaM, die Übernahme der«Unionsbürgerrichtlinie» und Ausnahmen bei den Sozialversicherungen. Der Bundesrat, die Parteien, Gewerkschaften und Verbände müssten nun eine kluge Interessensabwägung vornehmen – im Wissen darum, dass jeder Entscheid einen Preis haben werde.
NZZ-Redaktor Michael Schönenberger leitete im Anschluss eine lebhafte Diskussion mit folgenden Teilnehmern: Magdalena Martullo-Blocher (NR SVP/GR), Adrian Wüthrich (NR SP/BE und Präsident Travailsuisse) sowie Hans-Ulrich Bigler (NR FDP/ZH und Direktor sgv).
Gewerkschafter Wüthrich forderte von Wirtschaft und Politik eine Bestandesgarantie für die FlaM und verwahrte sich gegen den Vorwurf, die Gewerkschaften würden sich an den Lohnkontrollen bereichern: «An diesen Kontrollen verdienen wir gar nichts» – Travailsuisse finanziere sich allein über ihre Mitgliederbeiträge.
Unternehmerin Martullo ortete beim Bundesrat eine «nicht ganz ungeschickte Verzögerungstaktik», was das InstA betreffe, hielt aber fest: «Es besteht kein dringender Handlungsbedarf – es sei denn für einen Plan B, wie der Bundesrat auf allfällige Sticheleien seitens der EU zu reagieren gedenkt.» Martullo empfahl, das InstA abzulehnen und nach den EU-Wahlen weiter zu verhandeln. «Denn eines ist ja wohl klar: Die EU will die Schweiz vor allem als Zahlende einbinden.» Das Ziel der Schweiz dagegen müsse ein aktualisiertes Freihandelsabkommen sein.
Bigler verteidigte die Sozialpartnerschaft als «gewollte Regulierung, die uns den Arbeitsfrieden sichert» und wehrte sich gegen politische Schwarzmalerei und Schattenboxen rund um die FlaM. «Wir stehen ebenso zu diesen, wie wir uns gegen einen Ausbau wehren, der den flexiblen Arbeitsmarkt gefährden würde.» Heute gefragt sei in erster Linie ein entschiedeneres Vorgehen des Bundesrats.
Einig waren sich die Exponenten von FDP, SVP und SP vor allem in einem Punkt: Die EU ist derzeit stark geschwächt – und das macht die Verhandlungen nicht leichter.
Der sgv-Vorstand und die Schweizerische Gewerbekammer werden das InstA an ihren Sitzungen vom 30. Januar in Bern diskutieren.
Mit dem Thema «Cyber: Crime or Security?» wurde die 70. Gewerbliche Winterkonferenz in Klosters am Freitagnachmittag beendet. IT-Spezialist Ivano Somaini kennt alle Tricks, die Angestellten Informationen entlocken und Zugang zu sensiblen Daten ermöglichen: Als social Engineer ist er darauf spezialisiert, technische und menschliche Schwachstellen in Computersystemen auszunutzen. Aus gutem Grund. In seinem Referat erläuterte er weshalb es Hacker vermehrt auf KMU abgesehen haben und was Kleinbetriebe dagegen tun können. Über KMU könne man sich einfach Zugang zu Grosskonzernen, Banken und Verwaltungen verschaffen, begründet der Bündner die zunehmenden Hacker-Angriffe auf KMU.
«Irgendwo findet man immer eine Lücke», so Somaini. Gerade die Schweiz als eines der innovativsten Länder der Welt mit sehr viel Know-how und Informationen sei äusserst attraktiv für Hacker. Durch Cyber-Kriminalität wird gemäss dem IT-Spezialisten ein Profit von 445 Milliarden Franken pro Jahr erzielt – mehr als im kriminellen Drogenhandel. Hacker arbeiten gemäss Somaini hochprofessionell und seien top organisiert.
Mit verschiedenen Live-Demos zeigte er wie einfach es ist, sich Zugang zu Computern, Natels und im System zu verschaffen. «Jeder von uns kann im Netz ohne grossen Aufwand und für wenig Geld Hacker-Systeme beschaffen. Damit kann man Websiten, den Mailverkehr sowie ganze Firmen lahmlegen», sagt Somaini. Er beendete sein Referat aber nicht, ohne Tipps zum Schutz vor Hackerangriffe abzugeben. Er bezeichnete beispielsweise UBS-Stick als grossen Gefahrenherd und warnte davor, solche Kundengeschenke anzunehmen.
«Sensibilisieren Sie ihre Mitarbeiter, stellen Sie klare Regeln für das Surfen in Social-Media-Kanälen im Betrieb auf, verschlüsseln Sie alle Daten, machen Sie regelmässig Updates und Backups und verwenden Sie für alle ihre Dienste verschiedene Passwörter», so der Rat von Somaini. Philipp Kronig, Chef Informationsmanagement / Cyber Nachrichtendienst des Bundes machte eine politische Einordnung für die KMU.
Als fulminanten Schlusspunkt der gewerblichen Jubiläumskonferenz offeriert der Bündner Gewerbeverband am Freitagabend eine Kutschenfahrt auf die Alp Garfiun zum Fondueplausch.