Als grösste Dachorganisation der Schweizer Wirtschaft vertritt der Schweizerische Gewerbeverband sgv über 230 Verbände und gegen 500 000 KMU, was einem Anteil von 99,8 Prozent aller Unternehmen in unserem Land entspricht. Im Interesse der Schweizer KMU setzt sich der grösste Dachverband der Schweizer Wirtschaft für optimale wirtschaftliche und politische Rahmenbedingungen sowie für ein unternehmensfreundliches Umfeld ein.
Vor diesem Hintergrund verlangt der sgv:
Seit über einem Jahr befindet sich die Schweiz in einer pandemischen Lage. Diese hat nicht nur gesundheitspolitische Massnahmen notwendig gemacht, sondern die Schweiz auch in eine wirtschaftliche Krise geführt. Die aktuelle Lage hat ebenso die Resilienz der Schweizer Demokratie – namentlich der Entscheidungsfindung, -kontrolle und -umsetzung in der besonderen und ausserordentlichen Lage – getestet.
Resilienz ist die Fähigkeit eines Systems, trotz destabilisierender Einwirkungen von aussen, die eigene Stabilität zu gewährleisten oder sie raschestmöglich wiederherzustellen. Mit Bezug auf die Resilienz der Schweizer Demokratie ist festzustellen, dass es seit dem Beginn der pandemischen Lage zu einem Demokratiedefizit in der Schweiz gekommen ist. Das einseitige Vorgehen des Bundesrates und die zahlreichen Friktionen zwischen der Exekutive und der Legislative sowie zwischen dem Bund und den Kantonen belegen dies. Verschiedene Lücken in den rechtlichen Erlassgrundlagen sind deutlich geworden und haben zu einer Verunsicherung breiter Bevölkerungskreise beigetragen.
Generell hängt die Legitimation der Demokratie und damit ihre Resilienz in Zeiten der Krise vom Vertrauen der Bevölkerung in die politischen Mechanismen der Entscheidfindung ab. Dieses Vertrauen wird derzeit auf die Probe gestellt. Je länger der Lockdown dauert und je widersprüchlicher die Massnahmen, desto grösser die Verunsicherung und der Vertrauensverlust. Doch gerade die psychische Gesundheit der Bevölkerung ist die Basis für die Widerstandsfähigkeit der Schweizer Demokratie.
Das Epidemiengesetz EpG, das Hauptinstrument in der Steuerung der Schweiz in der pandemischen Lage, sieht im Artikel 81 seine periodische Überprüfung auf Wirksamkeit, Zweckmässigkeit und Wirtschaftlichkeit seiner Massnahmen vor. Pandemien und Epidemien können sich über Jahre erstrecken, deshalb ist es notwendig, möglichst früh eine Evaluation vorzunehmen und Lehren zu ziehen. Es gilt, die Instrumente der Lage und den Bedürfnissen anzupassen, um die Resilienz der Schweiz, insbesondere ihrer politischen Prozesse, zu wahren.
Der sgv stellt fest, dass die derzeitigen Führungsprozesse voller Friktionen und Widersprüche sind. Es ist insbesondere unklar, auf welcher Grundlage Entscheide getroffen werden – Evidenz, Szenarien, Befürchtungen, Absprachen mit anderen Ländern? – und wie die verschiedenen Gesichtspunkte bei der Entscheidfindung gewichtet werden. Aufgrund der Ergebnisse dieser Entscheide und der Art, wie sie sich auf die Wirtschaft und auf den sozialen Zusammenhalt der Schweiz auswirken, kann man nur davon ausgehen, dass sie einseitig und ohne angemessene Evidenz getroffen werden.
Einige Beispiele verdeutlichen das: Mit dem geltenden Lockdown und der Home-Office-Pflicht werden allein gesundheitspolitische Ziele verfolgt. Wirtschaftspolitische und sozialpolitische Ziele werden schlicht ignoriert. Ignoriert werden auch die grossen Probleme, die sich aus diesen Massnahmen ergeben, so etwa ihre hohen Kosten oder, dass sozial Schwächere vergleichsweise stärker durch sie getroffen werden. Lockdown und Home-Office-Pflicht sind verhängt worden, obschon alle Evidenz gegen die Wirksamkeit dieser Massnahmen sprach; finden die meisten Ansteckungen doch eben nicht am Arbeitsplatz und im wirtschaftlichen Austausch statt. Die Datenbasis ist denn auch ungenügend und der Umgang damit intransparent und willkürlich.
Führungsprobleme und Widersprüche zeigen sich auch in absurd verhängten Massnahmen. Etwa: mittags dürften vier Freunde vom Bau ihr Essen in einer Büezer-Beiz einnehmen; das Abendessen in ihrer Freizeit dürfen sie hingegen nicht mehr zusammen im womöglich gleichen Restaurant einnehmen, weil dieses für sie (als gewöhnliche Gäste) behördlich geschlossen ist – Schutzkonzepte, die über Mittag funktionieren, sind auch am Abend wirksam. Oder: Im ersten Lockdown mussten kleine Detailhändler schliessen, was dazu führte, dass sich die Frequenz auf grössere Händler verlagerte – mehr Frequenz heisst mehr Kontakte und komplexere Infektionsketten – und erst noch eine krasse Wettbewerbsverzerrung.
Viele dieser einseitigen Massnahmen wurden auf der Basis der Empfehlungen der «Swiss National COVID-19 Science Task Force» ergriffen. Diese Task Force ist ein politischer Akteur, der sich selbst konstituiert und nicht einmal vom Bundesrat eingesetzt worden ist, sondern vom BAG und dem Generalsekretariat des EDI als Mandatsgeber. Die Task Force ist selbst ein politischer Akteur mit eigener Agenda, Homepage auf der sie ihre Positionen («policy briefs») publiziert und diese entsprechend kommuniziert. Ihr fehlt jegliche Ausgewogenheit und die demokratische Legitimation.
Den verhängten Massnahmen fehlt zudem die demokratische Legitimation. Das Parlament als gewählte Vertretung des Volkes und der Kantone hat nur eine eingeschränkte Rolle in der besonderen und gar keine Rolle in der ausserordentlichen Lage. Mehrmals wurden die Spielregeln geändert, eine kohärente Führung ist, je länger die Pandemie dauert, desto weniger feststellbar. Die Ohnmacht des Parlaments zeigte sich auch darin, dass die Legislative sich nur noch in Briefform bei der Exekutive einbringen konnte. All diese Friktionen sind ein grosses Risiko für die Resilienz der Schweizer Demokratie.
Die ungenügende Digitalisierung der Prozesse hat die Mängel im Führungsrhythmus nicht nur offenbart, sondern auch verstärkt. Meldungen, die über Fax gemacht werden mussten, bis zu unterschiedlichen Informatik-Lösungen in den Kantonen sowie problematischen Informatik-Schnittstellen zwischen Bund und Kantonen haben eine Zusammenarbeit teilweise verunmöglicht. Dies machte sich in der ungenügenden Datenlage, den fehlerhaften Auswertungen, den erschwerten Analysemöglichkeiten und den mehrmaligen Korrekturen der zugänglichen Statistiken bemerkbar. Dabei gilt: Ohne zuverlässige Datengrundlage keine fundierte Analyse und keine wirkungsorientierten Massnahmen.
Die Mängel der Digitalisierung der öffentlichen Akteure haben sich auch in den Prozessabläufen bemerkbar gemacht, etwa im Contact Tracing, das vielerorts schlicht nicht funktioniert hat oder in den kantonalen Umsetzungen von gesundheits- und wirtschaftspolitischen Massnahmen.
Eine zentrale Lehre aus dem bisherigen Umgang mit der Pandemie ist: Die wirtschaftlichen Auswirkungen der verhängten Massnahmen werden nicht berücksichtigt. Je länger ein Lockdown dauert, desto überproportional wächst der dadurch verursachte volkswirtschaftliche Schaden. Diese aus den Daten des Internationalen Währungsfonds abgeleitete Erkenntnis (siehe Positionspapier «Verhältnismässigkeit wahren – KMU entschädigen») wird durch eine andere verstärkt: Massnahmen wie Lockdown und Home-Office-Pflicht wirken sich gerade auf wirtschaftlich und sozial Schwächere vergleichsweise stärker aus.
Mit Blick auf Verhältnismässigkeit und Abwägung verschiedener Ziele haben die Sozialpartner wesentliche Instrumente für den Umgang mit der Pandemie entwickelt, welche sich dann in der Praxis bewährt haben, allen voran die Logik des gezielten Schutzes. Dieser vom Parlament aufgenommene Grundsatz ermöglichte die Wiedereröffnung der Wirtschaft nach dem ersten Lockdown und bewährte sich seither. Dieser «smart restart» umfasst die Erarbeitung und Umsetzung von Schutzkonzepten, die Intensivierung von Tests, das Impfen sowie das Contact Tracing, um Ansteckungsketten zu brechen. Mit der konsequenten Anwendung der Logik des gezielten Schutzes ist auch jetzt eine Öffnung machbar. Diese Logik kann auch als Modell für künftige Pandemien gelten.
Die derzeitigen Massnahmen höhlen die Nachhaltigkeit der Schweizer Finanzpolitik aus. In den letzten zwanzig Jahren hat die Schweiz ihre Schulden um über 20 Milliarden Franken abgebaut. Innerhalb weniger Monat nur stiegen die Schulden wiederum gegen 30 Milliarden Franken an, um Ausgleichsmassnahen in der pandemischen Lage zu finanzieren, namentlich den Lockdown. Diese Schulden werden als höhere Steuern zu einer Last für die Zukunft und einmal mehr für künftige Generationen.
Die Schulden und die damit einhergehenden wirtschaftlichen Belastungen – ganz zu schweigen von den sozialpolitischen Kosten – steigen umso mehr, je länger der Lockdown andauert. Denn der aktuelle Härtefallmechanismus verdeckt einen gewichtigen Zielkonflikt. Er täuscht wirtschaftliche Normalität vor und setzt somit Anreize für den Bundesrat, den Lockdown zu verlängern. Für das Parlament setzt er Anreize, den Lockdown zu akzeptieren. Die sich daraus ergebenden Kosten werden aber verdeckt, weil sie in die Zukunft hinausgeschoben werden. Das ist das Gegenteil einer auf die Dauer angelegten, nachhaltigen, am Wohlergehen der Schweizer Bevölkerung orientierten Finanzpolitik.
Viele – aber nicht alle – der hier festgestellten Mängel haben mit dem EpG zu tun. Die Pandemie in den Jahren 2020/2021 ist die erste schweizweite Anwendung der im Gesetz definierten Lagen. Deshalb und angesichts der grundsätzlichen Unklarheit über die Dauer der aktuellen Pandemie ist es wichtig, jetzt schon Lehren zu ziehen und dieses Gesetz sowie weitere Erlasse in diesem Zusammenhang anzupassen.
Der sgv stellt fest, dass das EpG vor allem Kompetenzen festlegt. Es unterlässt aber, Führungsprozesse und deren Überwachung zu regeln. Insbesondere fokussiert das EpG allein auf gesundheitspolitische Überlegungen und lässt jegliche Zielkonflikte ausser Acht. Das gilt sowohl für Zielkonflikte zwischen den Dossiers – beispielsweise gesundheitspolitische gegen sozialpolitische, staatspolitische, wirtschaftspolitische und finanzpolitische Anliegen – als auch innerhalb der enger abgestellten Gesundheitspolitik – etwa die gesundheitliche Langzeitwirkung von für die Bekämpfung der Pandemie eingeleiteten Massnahmen.
Der sgv stellt ebenso fest, dass in der Umsetzung von Abläufen viele Friktionen und Fehler stattgefunden haben. Diese Abläufe waren nicht eingeübt. Dazu kommen fehlende Rahmenbedingungen, namentlich bezüglich der Digitalisierung und dem Einbezug verschiedener Anspruchsgruppen. Weiter sind im Gesetz vorgesehene Massnahmen nicht stufengerecht und nicht wirksam eingesetzt worden.
Zuletzt stellt der sgv fest, dass es an wirksamen Mitteln zur Führungskontrolle fehlt. Weder verwaltungsintern noch auf der Stufe des Bundesrates sind Kontrollmechanismen im Sinne von «checks and balances» vorgesehen. Das wird noch deutlicher im Verhältnis zwischen der Exekutive und der Legislative. Das Parlament hat – nach dem geltenden Gesetz – keine Aufgabe in der besonderen oder ausserordentlichen Lage, und damit fehlt die demokratische Legitimation der vom Bundesrat verhängten Massnahmen.
Insgesamt sind also deutliche Mängel am bestehenden EpG und damit verbundener Erlasse auszumachen. Diese Mängel betreffen insbesondere Führungsstruktur, Führungskontrolle, Umgang mit Zielkonflikten und Rahmenbedingungen. Die Behebung dieser Mängel ist also geboten, um die Qualität der rechtsstaatlichen Prozesse gerade in besonderen und ausserordentlichen Lagen zu erhöhen. Damit erhöht sich die Resilienz der Schweizer Demokratie, d. h. ihres Vermögens, Krisen zu meistern.
Die aktuelle Krise hat gezeigt, dass der Korrekturbedarf die gesamte Führungsstruktur, also sowohl den Führungsrhythmus als auch die Führungskontrolle, betrifft. Deshalb verlangt der sgv:
Wie die Evaluation zeigt, besteht der wichtigste inhaltliche Mangel im aktuellen System in der nicht bzw. ungenügenden Gewichtung von Zielkonflikten und damit im Verlust der Balance unterschiedliche Zielsetzungen in der Entscheidfindung. Der sgv fordert daher:
Neben den gezielten Korrekturen im Krisendispositiv der Schweiz sind auch weitere Rahmenbedingungen anzupassen, darunter:
Eine resiliente Demokratie kann Krisen bewältigen. Entsprechend gilt es, Lehren aus dem Umgang der Schweiz mit der Covid-19-Pandemie zu ziehen. Eine Evaluation des Pandemiejahres in der Schweiz zeigt klar Mängel auf. Während des Krisenjahres sind Demokratiedefizite deutlich geworden. Zudem hat die Schweiz eine Politik gemacht, welche zu Lasten der künftigen Generationen geht, weil Zielkonflikte weder erkannt noch sorgfältig abgewogen werden. Um die Resilienz der Schweizer Demokratie zu erhöhen, sind Verbesserungen sowohl im Führungsrhythmus sowie der Führungskontrolle wie auch in der Gewichtung von Zielkonflikten und betreffend Rahmenbedingungen, insbesondere der Digitalisierung, zwingend nötig.
Für den sgv ist es zentral, eine Balance der Dossiers und Interessenslagen zu finden. Eine Schliessung der sozialen und wirtschaftlichen Aktivitäten, d. h. ein absoluter oder ein Teil-Lockdown, ist eine eklatante Verletzung dieser Balance. Eine solche Schliessung hat einen hohen Preis, der überproportional ansteigt, je länger er dauert. Deshalb verlangt der sgv die sofortige Beendigung des Lockdowns und die Öffnung der Wirtschaft gemäss der Logik des gezielten Schutzes: Sie beinhaltet die Umsetzung von Schutzkonzepten, die Intensivierung der Tests, das Contact Tracing, um die Ansteckungsketten zu brechen und die Ausweitung des Impfprogramms.
Bern, 6. April 2021
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